Marion-Samuel-Preis für Angela Bachmair

Erstellt am 26. November 2021

Angela Bachmair, Mitglied im Sprecherrat der ErinnerungsWerkstatt, ist Anfang November mit einer großen Auszeichnung geehrt worden: Sie erhielt - zur Würdigung ihres Engagements für die Erinnerungskultur in Augsburg, vor allem aber für Ihr 2014 erschienenes Buch "Wir sind stolz, Zigeuner zu sein" - den Marion-Samuel-Preis der Stiftung Erinnerung. Die 1996 von Walther und Ingrid Seinsch gegründete Stiftung Erinnerung fördert Aktivitäten gegen das Vergessen der in der NS-Zeit begangenen Verbrechen. Mit dem Marion-Samuel-Preis wurden Persönlichkeiten wie Götz Aly oder Wolf Biermann ausgezeichnet. Seit Anfang November gehört in diesen Kreis auch Angela Bachmair. Wir finden: völlig zu Recht. Die ErinnerungsWerkstatt gratuliert ihr dazu sehr herzlich und dokumentiert hier die Laudatio von Prof. Dr. Benigna Schönhagen:

Sehr geehrte Familie Seinsch,
verehrte Frau Oberbürgermeisterin Weber,
liebe Marcella Reinhardt,
verehrte Anwesende,
und allen voran: liebe Angela!
Als mich die Bitte erreichte, bei der Verleihung des Marion-Samuel-Preises an Angela Bachmair die Laudatio zu halten, sammelte ich, was Weggefährten und Begleiterinnen mit der Preisträgerin verbinden. Wie nicht anders zu erwarten kamen da viele positive Eigenschaften zusammen. Doch eines führten alle an: Sie sei ungemein uneitel und immer an der Sache interessiert. Also kommt jetzt eine echte Herausforderung auf sie zu. Denn sie muss es aushalten, heute im Mittelpunkt zu stehen.
Damit sie nochmals kurz Luft holen kann, möchte ich vorweg an Gernot Römer erinnern, der den Anstoß für das Buch gegeben hat, das der heutigen Auszeichnung zugrunde liegt. Seine Pionierstudien zur lokalen NS-Vergangenheit, insbesondere seine grundlegenden Arbeiten zur Geschichte der Augsburger Jüdinnen und Juden kennt Jede und Jeder im Saal. Der langjährige Chefredakteur der Augsburger Zeitung war es, der seine ehemalige Mitarbeiterin Angela Bachmair 2011 auf die Geschichte der Nördlinger Sinti-Familie Reinhardt hinwies: „Sie interessieren sich doch für Erinnerungsarbeit! Dann ist das etwas für Sie,“ ermunterte er zur Kontaktaufnahme.
In der Tat begleitet Angela Bachmair neben einer Vorliebe für Architektur und Denkmalschutz, die ihr 2012 den Bayerischen Denkmalschutzpreis eintrug, ein bemerkenswertes Interesse an Geschichte, insbesondere an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, seit sie als Lokal- und Kulturjournalistin bei der Augsburger Allgemeinen arbeitet. Das hat, wie sie selbst einmal schrieb, wesentlich mit ihrem Vater zu tun, der zeit seines Lebens tiefe Scham darüber empfunden hat, dass er als Kind und Jugendlicher „Hitler auf den Leim gegangen war“, und deshalb als Redakteur dem Vorsatz folgte, „künftig das Seine dazu zu tun, damit niemand mehr anfällig werden könne für Rassismus und Diktatur“.
In diesem Elternhaus packte Angela Bachmair schon früh die „Neugierde auf das, was hinter dem Augenscheinlichen steht“. Nach einem Studium der Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie folgte sie dem beruflichen Weg ihres Vaters und begann 1988 bei der Augsburger Allgemeinen.

Zeithistoriker sehen in den 1980er Jahren eine Sattelzeit, eine Epochenschwelle, in der der Grundstock für den heutigen Umgang mit der NS-Zeit gelegt wurde. Vierzig Jahre nach Kriegsende ermöglichte damals nicht zuletzt ein Wechsel der Generationen, dass die lange beschwiegene nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen, Verbrechen für Verbrechen, aufgedeckt wurde. Angela Bachmair begleitete diese Aufarbeitung auf lokaler wie regionaler Ebene mit spürbarer Sympathie und ermutigender Anteilnahme. Konnte sie einen Bericht über eine ihr am Herzen liegende Veranstaltung nicht im Lokalteil unterbringen, nutzte sie das Feuilleton. Mit ihren Artikeln in der Augsburger Allgemeinen schuf sie Öffentlichkeit und Beachtung für die noch lange ungern gesehenen Enthüllungen, seien es ihre Tagungs- und Forschungsberichte – etwa über die Zwangssterilisationen in Augsburg oder den Approbationsentzug jüdischer Ärzte, seien es ihre Besprechungen einschlägiger Publikationen oder ihre Berichte über Erinnerungs-Initiativen im Land. Nicht zu vergessen, ihre Besprechungen historischer Ausstellungen, die sie gerne mit Zeitzeugengesprächen verknüpfte, um die Dargestellten selbst zu Wort kommen zu lassen. Auch die Reportage über eine Reise von Augsburgern nach Polen, um in Piaski einen Gedenkstein für die dort umgekommenen Jüdinnen und Juden aus Schwaben aufzustellen, gehört zu den Artikeln, mit denen sie die Stadtgesellschaft mit einer Gegenerzählung zur Verharmlosung der NS-Zeit konfrontierte. Nicht zuletzt ihre Themenseiten zu historischen Daten wie dem 8. Mai oder dem 9. November halfen, diese Gedenktage in Augsburg zu verankern. Wichtig war ihr dabei immer, Forschungsergebnisse an die Leser einer Lokalzeitung verständlich weiterzugeben, wie nicht zuletzt auch das Interview mit Andreas Wirsching, dem Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, über den Stand der NS-Aufarbeitung zeigt.
Blättert man sich durch die Artikel von Angela Bachmair, so kann man sehen, wie in den letzten zwei Jahrzehnten langsam das Gestalt annahm, was wir heute Erinnerungskultur nennen: Aufklären über und erinnern an die deutschen Verbrechen und das Gedenken an die Menschen, die diesen zum Opfer fielen. „Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben. Er gehört zur Geschichte dieses Landes“, sagte der frühere Bundespräsident Joachim Gauck 70 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Erst jüngst hat die scheidende Bundeskanzlerin ihren letzten Besuch im Amt in Israel dazu genutzt, diese Verpflichtung erneut zu bekräftigen.

Ganz anders dagegen verhält es sich noch immer mit der Erinnerung an die Leidensgeschichte der Sinti und Roma. An die 500.000 Mitglieder dieser größten europäischen Minderheit wurden in der NS-Zeit ermordet, mehr als 23.000 von ihnen gehörten zu den deutschen Sinti. Sie waren seit 600 Jahren im Deutschen Reich zu Hause, hatten die deutsche Staatsbürgerschaft, die meisten gehörten der Katholischen Kirche an. Doch die Erinnerung an diesen Völkermord hat noch immer einen anderen Status als die Erinnerung an die Schoa. Denn die Aufarbeitung des Porajmos, wie Sinti und Roma den Genozid an ihrem Volk in ihre Sprache, dem Romanes, nennen, verlief deutlich zögerlicher als die Aufarbeitung des Judenmords. Bis heute erhält er weit weniger Aufmerksamkeit, in den Medien wie in der öffentlichen Erinnerungspflege. Beschämend lange lehnten staatliche oder kommunale Behörden Entschädigungsanträge von den als „Zigeuner“ Verfolgten mit dem Argument ab, dass es sich nicht um eine rassistische Verfolgung gehandelt habe. Fast vierzig Jahre vergingen nach dem Ende des NS-Staats, bis die Bundesregierung 1982 den Völkermord an den Sinti und Roma offiziell anerkannte. Dabei wurde er, wie 1996 Bundepräsident Roman Herzog betonte, „aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt [worden ist] wie der an den Juden“.

An diese vergessene Geschichte erinnert Angela Bachmair mit ihrem Buch – ganz konkret und überaus einfühlsam. Mit Ihrem sorgfältig recherchierten und mit Empathie geschriebenen Bericht „vom Leben und Leiden einer Sinti-Familie“ zeigt sie die alltäglichen Auswirkungen des Rassenwahns am Beispiel der Nördlinger Familie Reinhardt. Ebenso anschaulich wie aufrüttelnd schildert sie, dass Diskriminierung und Ausgrenzung nicht erst 1933 begannen und dass sie über das Kriegsende hinaus fortgesetzt wurden, wie sie bis heute nachwirken und wie Sinti auch heute noch an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.
Anna Reinhardt war drei Monate alt, als Polizisten im Mai 1940 ihre Eltern Franz und Maria sowie ihre drei Schwestern und zwei Brüder verhafteten. Schon zu diesem Zeitpunkt war die Situation der Familie prekär geworden. Nazi-Beamte hatten Franz Reinhardt, der vom Pferdehandel gut gelebt hatte, 1936 wie allen anderen Sinti den Gewerbeschein entzogen und ihn zur Zwangsarbeit beim Bau der Reichsautobahn zwischen Heilbronn und Stuttgart eingeteilt. Seit dem sog. Festsetzungserlass des Reichssicherheitshauptamtes vom Oktober 1938 dürfen sie ihren Wohnort nicht mehr verlassen. Nun, im Frühjahr 1940 werden sie in ein Sammellager auf dem württembergischen Festungsgefängnis Hohenasperg zusammengepfercht. Von dort deportiert sie die SS mit Hunderten anderer Sinti-Familien in das von den Deutschen eroberte Polen, das Generalgouvernement. Weil sich Heinrich Himmler, Chef der SS und der Polizei, nicht mit Generalgouverneur Hans Frank über das weitere Vorgehen in dessen Revier einigen kann, werden die „Umgesiedelten“ dort regelrecht ausgesetzt. Familie Reinhardt vegetiert mit ihren sechs Kindern, darunter das Baby Anna und der vierjährige Karl, von einem Lager oder eingezäunten Ghetto zum nächsten, erst im Distrikt Radom, dann in einem Zwangsarbeitslager bei Krakau. Die Bedingungen sind unverstellbar. Viele in den Lagern sterben bald an Typhus. Wer vor Schwäche und Hunger nicht mehr arbeiten kann, den erschießt die SS. Fünf Jahre lang geht es für die Familie Reinhardt ums pure Überleben: Zwangsarbeit, Untertauchen in den Wäldern, wieder eingefangen- und in ein neues Lager transportiert-Werden. Die Hälfte der nach Polen verschleppten Sinti hat diese Tortur nicht überlebt. Ihren Tod hatte die SS einkalkuliert.

Als der Krieg endlich zu Ende ist und sich die Familie nach Hause durchschlagen kann, ist Anna erst fünf Jahre alt. Es sind also die Erinnerungen eines Kleinkindes, mit denen Angela Bachmair arbeitet. Woran erinnert sich ein kleines Kind? Was kann es verstehen, was konkret benennen außer Ereignisfetzen, seiner Angst und dem Gefühl von Bedrohung? Die aber hat sich tief eingegraben. Noch im Alter lösen Amtspersonen mit fordernder Stimme, zumal wenn sie im weißen Kittel auftreten, bei Anna Reinhardt blanke Panik aus. Das Trauma der Lagerhaft hat sich in ihrem Körper festgesetzt. Und wenn sie später, nach der Rückkehr aus Polen, ihrer ersten Puppe die Kleider auszieht und ihr einen Zopf abschneidet, wiederholt sie, was sie im Arbeitslager erlebt hat. Es dauert, bis Anna Reinhardt ihre Erinnerungen der Journalistin aus Augsburg anvertraut. Tief sitzt das Misstrauen der jahrhundertelang ausgrenzten und verächtlich behandelten Minderheit gegenüber den Gadschen, den Nicht-Zigeunern. Ihr Vertrauen muss sich Angela Bachmair erst erwerben. Sie tut das mit Geduld, Ehrlichkeit und Einfühlungsvermögen.
Um die Stationen der Deportation zu rekonstruieren und die Zusammenhänge zu verstehen, muss Angela Bachmair intensiv recherchieren. Eindrucksvoll lang ist die Liste der Archive und Dokumentationszentren, die sie konsultierte. Sie ließ nicht locker, bis sie die Schicksale sämtlicher Mitglieder der Familie Reinhardt in detektivischer Kleinarbeit rekonstruiert hatte.
Mit dem sog. „Auschwitz-Erlaß“ vom 16. Dezember 1942 will Heinrich Himmler die „Zigeunerplage“ endgültig beenden. Er lässt 23.000 Sinti und Roma aus elf europäischen Ländern nach Auschwitz-Birkenau verschleppen. Ungefähr zur gleichen Zeit kommt auch die zwölfjährige Marion Samuel, nach der die heute zu vergebende Auszeichnung benannt ist, in Auschwitz an. Marion Samuel gilt seitdem als verschollen.
Auch Mitglieder der Reinhardts werden in das dortige „Zigeuner-Familienlager“ deportiert. Einzig Anna Reinhardts Großvater väterlicherseits, Ferdinand Reinhardt, kann mit seiner Frau und den vier Kinder seines erst im KZ Dachau, dann im Konzentrationslager Mauthausen festgehaltenen Schwiegersohns in Stuttgart überleben, – mühsamst überleben. Die meisten Deportierten sterben an den unmenschlichen Lebensbedingungen im „Zigeuner-Familienlager“, sie verhungern, erliegen dem grassierenden Typhus, den allgegenwärtigen Misshandlungen oder den grausamen medizinischen Experimenten Josef Mengeles, der dafür bevorzugt Sinti-Kinder aussucht. Die letzten 4.000 Häftlinge des „Zigeunerlagers“ wagen 1944 einen Aufstand. Sie werden alle vergast. Unter den Toten sind sieben Mitglieder der Familie Reinhardt. Lediglich Annas Cousin Josef überlebt das Elend und das gewollte Massensterben. Er ist erst 17 Jahre alt, als ihn die SS bei der Auflösung des Zigeuner-Lagers weiter ins KZ Buchenwald und später nach Bergen-Belsen treibt. Völlig entkräftet kommt Josef Reinhardt im Juni 1945 nach Nördlingen zurück, wo der mittlerweile verwitwete Vater von Anna Reinhardt, Karl Kaufmann, mit seinem Sohn Rudolf lebt.

Die Autorin erzählt das Geschehen konsequent aus der Sicht der Betroffen, macht deren Sichtweise hörbar. Folgerichtig nutzt sie auch Anna Reinhardts Bekenntnis „Wir sind stolz, Zigeuner zu sein“ als Titel. Angela Bachmair ist keine allwissende Expertin, sie lässt die Leser teilhaben an ihren Entdeckungen und ihrem Erstaunen, ihrer Empörung und ihrer Scham. Sie nimmt sie mit beim Eintauchen in eine, wie sie schreibt, „mir fremde Welt.“ Um Situationen nachvollziehen zu können, nutzt sie Parallelberichte anderer Überlebender wie etwa die des Münchner Hugo Höllenreiner. Und wo auch die nicht vorhandenen sind, setzt sie ihre Empathie und Vorstellungskraft ein, um verständlich zu machen, was die banalen, meist in einfühlloser Behördensprache übermittelten Angaben für die Betroffenen bedeuteten. So beschreibt sie den dreitägigen Transport der Familie von Württemberg nach Polen zum Beispiel so:
„Ich stelle mir vor, wie Maria Reinhardt in der drangvollen Enge der dreitägigen Zugfahrt nach Polen ihr Baby an sich drückt, es auf dem Arm hält, bis sie nichtmehr kann, es vielleicht an eine der größeren Töchter weitergibt, wie sie versucht, ihr Kind zu stillen, wie sie sich nur mit Mühe aufrecht hält, geplagt von Hunger und Durst“. (S.35)
Im zweiten Teil des Buchs geht es um den Neuanfang nach dem Überleben. Auch dabei belässt Angela Bachmair es nicht bei der dürren Angabe „Rückkehr im Frühjahr 1945“, sondern sie versucht deutlich zu machen, was diese Rückkehr für die Überlebenden bedeutete. Die traumatischen Erfahrungen waren ihr einziges Gepäck. „Sie sind erschöpft und ausgezehrt, sie sind nur noch Schatten ihrer selbst nach all den Jahren der Haft und der Zwangsarbeit, nach den Schikanen, dem Hunger und der Angst, nach dem mühevollen Weg zurück nach Deutschland. Wahrscheinlich können sie noch gar nicht glauben, dass sie dem Inferno entronnen sind und die Schreckensjahre nun überstanden sind.“ (S.119) Doch statt Mitgefühl und Verständnis, treffen die Rückkehrer auf Ablehnung, im besten Fall auf Gleichgültigkeit. Ralph Giordano hat das die „zweite Schuld“ genannt. Sie sind demselben Rassismus ausgeliefert, der ihnen schon vor 1933 das Leben schwer gemacht hatte. Die Verfolgung setzte sich einfach fort. Eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen findet in der jungen BRD kaum statt. Erst 1991 kommt es zur Verurteilung des Mannes, der Blockführer im Zigeunerlager war. Bachmair nennt seinen Namen, verbirgt die Verantwortung nicht im Unbestimmten, in den so gerne verwendeten passivischen Formulierungen. Ernst- August König ist bis 1991 der einzige Täter des Porajmos, der zu lebenslanger Haft verurteilt wird. Noch 1956 befand der Bundesgerichtshof, dass für die Verfolgung der Zigeuner bis zur Auschwitz-Deportation 1943 nicht „rassenideologische Gesichtspunkte, sondern die bereits erwähnten asozialen Eigenschaften der Zigeuner“ maßgeblich gewesen seien. (S.140) Angesichts der ungebrochen nazistischen Argumentation bekennt Angela Bachmair mit Entsetzen: „Wie Politiker, Juristen, Ärzte, Polizisten und Historiker, wie die Institutionen und die gesamte Gesellschaft der Bundesrepublik mit den Sinti und Roma, die den NS-Völkermord überlebten, umgingen, das ist ein Skandal, der einem bis heute die Schamröte ins Gesicht treibt.“ (S.143)
Dem Vorbild des großen Historikers Saul Friedländer folgend, nennt sie konsequent Täter wie Opfer beim Namen. Sie benennt aber auch die wenigen, die den überlebenden und schwer traumatisierten Sinti Verständnis entgegenbrachten: der Nördlinger Hausarzt Dr. Gerd Rager, der sich hartnäckig für eine Rente der schwer an den Trauma-Folgen leidenden Anna Reinhardt einsetzt; der Stuttgarter Rechtsanwalt Dr. Nagel, der „wie ein Löwe“ dafür kämpft, dass die Familie die ihr zustehende Entschädigung erhält; der Bürgermeister von Oberdorf am Ipf August Hirsch. Selbst ein von den Nazis Verfolgter gibt der Familie die andernorts verweigerte Erlaubnis zum Kauf eines Hauses und lässt sie bis dahin, gegen den Widerstand des gesamten Ortes, in ihrem Wohnwagen auf dem Marktplatz campieren.
Doch das sind Ausnahmen. Die Regel sind fehlendes Mitgefühl und mangelnde Unterstützung – in der Schule, bei den Behörden, in der Nachbarschaft. Der Antiziganismus, das alte Vorurteil gegenüber den im Sommer auf die Reise gehenden Sinti wirkt auch nach 1945. Das treibt die Familie eng zusammen. Sie sucht den Rückhalt anderer Sinti-Familien und zieht 1960 zurück nach Nördlingen, ins Barackenlager an der Würzburger Straße, ohne fließend Wasser und Kanalisation, aber mit dem durch nichts aufzuwiegenden Gefühl, frei zu sein. Ähnlich wie im Augsburger Fischerholz. Für die Nördlinger und anderen Nicht-Sinti sind sie die „Leute vom Lager“, exotisch und fremd, sie werden idealisiert oder kriminalisiert, aber nicht als ebenbürtig respektiert. Ihre „Zigeunermusik“ gefällt, wenn sie im Wirtshaus aufspielen. Doch ihre Lebensweise, ihre saisonale Mobilität, ihr ambulanter Handel und besonders ihre großen Zugwagen für die Wohnwägen werden mit Argwohn beäugt. Angela Bachmair setzt dem entgegen, dass auch ein Großteil der Bevölkerungsmehrheit eine Vorliebe für große, schnelle, starke Autos hat und dafür viel Geld ausgibt. Sie stellt die Gemeinsamkeiten heraus, statt in abwertender Absicht nur nach Trennendem und Unterschieden zu suchen. „Ich versuche, mich in diese Haltung hinein zu versetzen: Aufbrechen zu können, wenn es einem zu eng und zu bedrängend wird, das ist durchaus ein gutes Gefühl“, schreibt sie.
Mit ihrem Bericht setzte sie nicht nur Anna Reinhardt und ihrer Familie ein literarisches Denkmal. Sie versucht auch, wie sie am Ende ihres Buches schreibt, „Antworten auf gängige Vorurteile und Aversionen in der Mehrheitsgesellschaft zu geben“.

Das Buch erscheint 2014, noch vor der sog. Flüchtlingskrise, und stößt auf waches Interesse. Die Autorin wird zu vielen Lesungen eingeladen und nimmt, so oft es geht, Anna Reinhardt oder Mitglieder der Familie mit. Die Botschaft des Buchs trägt Früchte, bei vielen hat es Verständnis bewirkt, für Sinti Ermutigung bedeutet. Tatsächlich ist das Schweigen über den Holocaust an den Sinti beendet, ihre Geschichte wird sichtbarer, die nächste Generation tritt aus dem Schatten des Holocaust und formuliert selbstbewusst ihre Forderungen an Teilhabe in einer offenen Gesellschaft. 2015 gründet Marcella Reinhardt, Enkelin von NS-Opfern, hier in Augsburg den Regionalverband deutscher Sinti und Roma Schwaben e.V., 2017 begrüßt Oberbürgermeister Kurt Gribl dessen Vertreter hier, im Goldenen Saal und versichert: „Sie gehören dazu, Sie sind ein Teil von uns“. In Oberhausen erinnern heute Gedenkzeichen an die von Nationalsozialisten ermordeten Sinti, am Nordbahnhof eine Erinnerungstafel, und die Stadt informiert dazu mit einem Faltblatt über die Geschichte der Augsburger Sinti.
Auch europaweit hat sich in dieser Zeit einiges getan. 2015 wird der 2. August, der Tag des Sinti-Aufstands in Auschwitz, zum Europäischen Gedenktag für Sinti und Roma erklärt. Immer mehr Städte und Gemeinden begehen Gedenktage für die deportierten Sinti und Roma.
Doch gleichzeitig haben sich Populismus und Nationalismus vermehrt. Die immer komplexer werdende, unkontrollierbar scheinende globalisierte Welt verführt zum Suchen nach einfachen Erklärungen und zu Schuldzuweisungen nach altem Muster. Die Unübersichtlichkeit macht anfällig für nationalistische und völkische Parolen. Die Corona-Pandemie hat wie ein Brandbeschleuniger gewirkt, öffentliche Diffamierungen von Sinti und v.a. Roma nehmen wieder eklatant zu. Der im Sommer vorgestellte Bericht der seit 2019 arbeitenden Unabhängigen Kommission Antiziganismus ist besorgniserregend. In Zeiten, in denen Rassismus wieder offen geäußert wird und ein rassistischer Fanatiker die Beter in einer Synagoge überfallen und ermorden will und schließlich zwei Zufallsopfer erschießt, ist es deshalb unerlässlich, daran zu erinnern, wohin Rassenhass schon einmal geführt hat. Ebenso notwendig ist es aber auch, zivilgesellschaftliche Kräfte zu stärken, die sich für den Erhalt einer offenen Gesellschaft und für eine lebendige Demokratie einsetzen.

Und damit komme ich zum letzten Punkt meiner Würdigung, dem ehrenamtlichen Engagement von Angela Bachmair. Denn sie belässt es nicht beim Anschreiben gegen das Vergessen. Sie setzt ihre Überzeugung auch mit viel Energie in bürgerschaftliches Engagement um. Das Netzwerk, das sie während ihrer Berufstätigkeit geknüpft hat, ist groß und von erstaunlicher Reichweite. Und so blieb es nicht aus, dass ihre Mitarbeit höchst begehrt war, als 2011 ihre Tätigkeit bei der Augsburger Allgemeinen endete. Ihre moderierenden Fähigkeiten und ihre Begabung, Menschen zu vernetzen, waren gesucht. Doch sie prüfte genau, für welche Themen und Initiativen sie ihre Zeit und Energie investieren wollte. Sie entschied sich für das Forum für interkulturelles Leben und Lernen e.V., kurz FILL. Angela Bachmair hatte die interkulturellen Aktivitäten und Projekte des 1990 von dem späteren Friedenspreisträger Helmut Hartmann mit anderen gegründeten Vereins, der dem damals auflodernden Fremdenhass Lernmöglichkeiten für kulturelle Toleranz entgegensetzte, von Anfang an journalistisch begleitet. 2012 wurde sie dann selbst im Vorstand tätig. Im Kontext von Fill wirkte sie auch bis dieses Jahr als Mitglied der Jury für den Augsburger Wissenschaftspreis für interkulturelle Studien, den FILL zusammen mit Universität und Stadt auslobt.
2012 war auch die ErinnerungsWerkstatt Augsburg im Entstehen. Verena von Mutius, Nikolaus Hueck und ich, damals Leiterin des Jüdischen Museums, planten eine erste öffentliche Veranstaltung, einen Workshop, in dem wir verschiedene Formen von Erinnerungszeichen vorstellen und diskutieren ließen. Um die Moderation baten wir Angela Bachmair. Von da an ist sie dabei und Mitglied im damals vier-, heute fünfköpfigen Sprecherrat der ErinnerungsWerkstatt Augsburg. Bis heute ist das ein loser Zusammenschluss von Initiativen, Institutionen und Privatpersonen der Stadtgesellschaft, die das Ziel verbindet, die Lebensgeschichten von Augsburger Opfern des Nationalsozialismus zu erforschen und die Erinnerung an sie wach zu halten. Anfangs dachten wir auch an Stolpersteine, um die Erinnerung im Stadtraum sichtbar zu machen. Als aber Rabbiner Brandt, die Israelitische Kultusgemeinde und die lokalen Vertreter der Sinti und Roma neben Einzelpersonen die Verlegung von Stolpersteinen kategorisch ablehnten, wurde Angela Bachmair zu einer wichtigen Vermittlerin zwischen den Antagonisten. Im Streit über die Form des Gedenkens drohte das eigentliche Anliegen aus dem Blick zu geraten. Da sorgte nicht zuletzt Angela Bachmairs Moderationstalent dafür, dass der Gesprächsfaden zwischen der inzwischen entstandenen Stolperstein-Initiative e.V. und der ErinnerungsWerkstatt nicht abriss. Sie war auch dabei, als in einem von der Stadt ausgeschriebenen Wettbewerb mit den „Erinnerungsbändern“ ein künstlerischer Alternativentwurf gefunden wurde. Als Mitglied der Kommission Erinnerungskultur, die die Stadt damals ins Leben rief und die sich heute mit Straßennamen befasst, war sie ebenfalls beteiligt, als in einem intensiven, zwei Jahre dauernden Prozess der „Augsburger Weg der Erinnerung“ ausgehandelt wurde. Seit der Stadtrat im März 2016 die Umsetzung dieses Konzepts beschlosss, können Angehörige von Opfern wie potentielle Paten sich für das Gedenken an ein NS-Opfer zwischen zwei Formen entscheiden: im Bodenpflaster eingelassene Stolpersteine oder auf Augenhöhe an Pfosten angebrachte Erinnerungsbänder. Eine Gesellschaft der Vielfalt verträgt auch vielfältige Zeichen der Erinnerung. Der Kompromiss ist angekommen. Mittlerweile sind über 40 Stolpersteine und 25 Erinnerungsbänder vorhanden und weitere in Vorbereitung. In größtmöglicher Nähe vor dem jeweils letzten freiwilligen Wohnort angebracht, also dezentral und individuell, erinnern sie an Menschen aus Augsburg, die in der NS-Zeit um ihr Leben gebracht wurden, nur weil sie nicht in das damals geltende sozialrassistische Weltbild passten.
Ein Gedenkbuch ergänzt die notwendigerweise knappen Angaben auf den Gedenkzeichen. Es wird bürgerschaftlich erarbeitet, zur Mitarbeit ist jede und jeder eingeladen!
Die Stadt fördert das Gedenkbuch finanziell mit einem Beitrag und die Oberbürgermeisterin hat die Schirmherrschaft von ihrem Vorgänger übernommen. Neben den Namen und Adressen der Ermordeten enthält das Gedenkbuch ausführliche Lebensbilder von NS-Opfern wie von Überlebenden der Verfolgung. Und zwar von allen Opfergruppen. Neben verfolgten Juden und politisch Verfolgten auch die Opfer der Krankenmorde, die zu „Gemeinschaftsfremden“ Erklärten oder die wegen ihrer sexuellen Orientierung Verfolgten. Ebenso auch die ermordeten Sinti und Roma. Für die Augsburger Familien Winter und Reinhardt gibt es mittlerweile 13 Biographien, alle hat Angela Bachmair beigesteuert. Einen Großteil der Biographien erarbeiten Schülerinnen und Schüler, betreut von einem Mitarbeiter der ErinnerungsWerkstatt. Mitarbeiter der ErinnerungsWerkstatt sorgen auch für die redaktionelle Bearbeitung und historische Überprüfung der Angaben, bevor sie ins Internet gestellt und für alle zugänglich werden. Mittlerweile haben wir auch begonnen, die Biographien zu übersetzen, um sie auch für die Nachfahren der NS-Opfer, die meist kein Deutsch verstehen, zugänglich zu machen.

Angela Bachmair ist bei fast allen Aktivitäten der ErinnerungsWekstatt dabei: Sie wirbt ehrenamtliche Mitarbeiter, sammelt Spenden, organisiert Veranstaltungen, gewinnt Paten von Erinnerungsbändern und betreibt die Öffentlichkeitsarbeit. Darüber ist Angela Bachmair zum Gesicht der ErinnerungsWerkstatt Augsburg geworden. Mit Leidenschaft für die Sache, Beharrlichkeit und ihrem Kommunikationstalent gelingt es ihr immer wieder, Menschen für die Erinnerungsarbeit zu gewinnen.
Der Marion Samuel-Preis ehrt – ich zitiere aus der Stiftungssatzung – „Menschen und Institutionen, die sich auf besonders wirkungsvolle Weise gegen das Vergessen, Verschweigen und Relativieren der von Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen einsetzen und/oder die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Zeit voranbringen.“ Zu den Preisträger gehören Raul Hilberg, Imre Kertész, Michael von Cranach, Götz Aly und nun auch – Angela Bachmair.
Liebe Angela, ich gratuliere Dir von Herzen zum Marion Samuel-Preis!