Am 12. Juni ist Gernot Römer im Alter von 93 Jahren gestorben.
Aus dem Jahr 2007 stammt der folgende Text, den Michael Friedrichs 2007 bei der Buchvorstellung von „An meine Gemeinde in der Zerstreuung“ vorgetragen hat.
Augsburg ist eine Römerstadt.
Die Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte haben
Bemerkenswertes zu Tage gefördert.
Und wir im Wißner-Verlag freuen uns,
daran mitwirken zu dürfen.
Tatsächlich waren wir nicht die ersten,
die die Römer-Funde und -Befunde publiziert haben,
es war zunächst das Unternehmen Pressedruck,
der Verlag der Augsburger Allgemeinen
(eines Organs, in dem der Autor, um den es hier heute geht,
eine nicht ganz unbedeutende Stellung innehatte).
Als aber unübersehbar wurde,
dass die ersten Römer-Bücher keine Ausrutscher waren,
sondern ein nach oben offenes Programm,
kam die Idee auf,
diese Reihe an einen normalen Buchverlag zu übergeben,
und so wurde mir die Ehre zuteil, mit dem Autor,
um den es heute geht, zusammenzuwirken.
Aber um Ehre ging es nicht, nicht für uns,
und gewiss auch nicht in erster Linie für diesen Autor.
Ihm ging es, wenn ich ihn richtig verstanden habe,
vielmehr darum, Schmach und Schande
dort wenigstens ein Stück weit abzutragen,
wo von Tilgung keine Rede sein kann.
Aus einem Bereich, der sich auch heute noch
sehr gut zu eignen scheint für
Schönrednerei, Unaufrichtigkeit und Bemäntelung,
nicht nur, wenn es darum geht,
das Leben ehemaliger Marinerichter zu würdigen.
Augsburg ist nicht immer eine Römerstadt gewesen.
Aber jeder, der sich hier
mit dem jüdischen Leben der letzten zwei Jahrhunderte
und mit der fast völligen Vernichtung
dieses blühenden Lebens
unter dem Nationalsozialismus
beschäftigt, greift völlig selbstverständlich
zu den Schriften von Gernot Römer.
Schreibtalent, Fleiß und Beharrlichkeit,
die haben manche und das klingt banal
und wäre keineswegs ausreichend.
Die erforderliche ethische Einstellung,
die Verbrechen des Nationalsozialismus anzuprangern,
damit sie weder in Vergessenheit geraten
noch wiederholt werden,
ist zwar nicht exzeptionell,
aber noch keineswegs
so verbreitet wie es nötig wäre.
Nach meinem Eindruck seine größte Qualität
ist die Fähigkeit, Verfolgte aufzuspüren,
Kontakt mit ihnen aufzubauen,
das Vertrauen zu schaffen, ohne das sie ihre
unglaublich schmerzhafte Lebensgeschichte
und ihre kostbarsten Erinnerungsstücke
niemals der Öffentlichkeit mitgeteilt haben würden.
Eins kommt dazu, und ich frage mich und ihn,
ob Gernot Römer sich dessen bewusst war,
als er damit anfing, wahrscheinlich nicht –
er hat dieser Aufgabe die beste Zeit von vielleicht
zwanzig Jahren seines Lebens gewidmet.
Und uns gelegentlich gesagt, wie schwierig es ist,
das Finanzamt davon zu überzeugen,
dass dies kein Hobby ist,
bei so viel Aufwand und so wenig Ertrag.
Bei dem neuen Werk, das wir heute vorstellen,
hat Römer sich, wenn ich richtig sehe,
ein noch größeres Pensum auferlegt als sonst.
Es galt eine Sammlung von Rundbriefen zu rekonstruieren,
die nirgends vereint erhalten waren,
es galt diese Briefe mit zahlreichen Anmerkungen
für weniger kundige Leser verständlich zu machen,
und obendrein wurden für fast alle der in den
Rundschreiben genannten etwa 600 Personen
Kurzbiographien mit genauen Quellenangaben erstellt,
zusätzlich durch Indexe erschlossen.
Wir haben von Camus gelernt, uns Sisyphus
als einen glücklichen Menschen vorzustellen.
Aber Sisyphus hat sich sein Werk nicht selbst auferlegt,
und im Unterschied zu Römer
auch nicht fertiggestellt.
Müssen wir uns nun daher Römer
als einen unglücklichen Menschen vorstellen?
Gewissenhafte Autoren, die ihre Bücher aufschlagen,
finden bisweilen eine nicht ganz perfekte Stelle.
Aber solcher Schmerz vergeht, denke ich, rasch
angesichts der Freude und Dankbarkeit,
die das gelungene Werk bei seinen Lesern auslöst
und die anhalten wird viel länger,
als wir alle leben.
Michael Friedrichs, 2007